Kapitel 1: Lieber namenslos

 

„Bis später, Sohnemann!“

 

So schnell wie nur möglich, schlug er die Tür hinter sich zu. Es war jedes Mal eine Qual für den Jungen seinem Vater am Morgen zu begegnen. Meistens hielt er sich absichtlich bedeckt und verschwand einfach so ohne Spuren zu hinterlassen. Doch ausgerechnet an diesem Morgen musste er seinen Hausschlüssel auf dem Küchentisch liegen lassen. Er hätte sich innerlich dafür ohrfeigen können.

 

Es war der erste Schultag, den er als Zweitklässler verbringen würde. Tagelang hatte er recherchiert und geplant, was heute passieren könnte und sollte. Er würde die U-Bahn-Station betreten, sein Gleis finden, zwei Haltestellen fahren, in die andere Linie umsteigen, weitere drei Stationen fahren und schlussendlich noch zehn Minuten vom Bahnhof zur Schule laufen. Wohlgemerkt, sein Vater hätte ihn auch mit seinem Motorrad dort abgesetzt, wenn er doch schon fast in dieselbe Richtung fahren musste. Aber sein Sprössling wollte sich dem Gemurmel der anderen nicht aussetzen und lehnte konsequent ab. Es war nur zu seinem eigenen Wohle.

 

Die Soka Senior High war eine vollkommen normale Oberschule in Shibuya. Ungefähr 400 Schüler und Schülerinnen aus der Gegend besuchten sie. Besonders war die Soka nicht – zumindest nicht im bildungstechnischen Sinne. Sie war recht alt, die Technik konnte nicht mit den anderen Oberschulen in Shibuya und schon gar nicht denen in Tokyos anderen Stadtteilen mithalten. Die Turnhalle war ebenfalls nicht besonders schön, diente aber ihrem Zweck. Während immer wieder Beschwerden von Eltern kamen, die forderten, dass die Umkleideräume doch endlich mal saniert werden sollten, hatten die Schüler selbst nicht allzu große Ansprüche. Als staatliche Schule war die Soka nämlich ziemlich günstig und sie tat, was sie sollte: nach drei Jahren würden – bis auf einige Ausnahmen – alle ihrer Schüler einen Abschluss erlangen.

 

Das war auch sein Ziel. Die Schule fertig bringen und dann so schnell wie möglich Arbeit suchen. Universität? Brauchte er nicht. Er hatte jetzt schon einen Job sicher, wenn er in zwei Jahren die Schule beenden würde. Und es war sein Traumjob: im Onsen der Schamanenkönigin an der Rezeption arbeiten. Sein Vater arbeitete bereits für die Königin. Und sein Sohn würde schon bald in seine Fußstapfen treten.

 

Der Weg bis zur Oberschule war schnell hinter sich gebracht. Die Massen an neuen Schülern, die sich neugierig umsahen und neuen Schülerinnen, die fröhlich aufquiekten, als sie ihre Freundinnen erkannten – daran würde er sich nie gewöhnen. Da das Gelände der Soka nicht besonders weitläufig war, musste man sich unweigerlich zwischen den ganzen Leuten hindurchquetschen, um zur großen Tafel zu gelangen. Letztes Jahr war sie innerhalb des Schulgebäudes, direkt hinter den Schuhschränken, doch der Direktor hatte davon gelernt. Viele Jugendliche – auch der junge Schamane – waren deshalb an ihrem ersten Schultag zu spät gekommen, weil die ganzen Horden sich direkt vor dieser einen Tafel versammelt hatten. Nun stand diese draußen neben den Türen. Keine perfekte, aber immerhin eine angenehmere Lösung.

 

Er musste seinen Hals ordentlich in die Höhe strecken, um über die Köpfe der Jungen vor ihm schauen zu können. Seine roten Haare wischte er sich ständig zur Seite, um überhaupt etwas sehen zu können. Vielleicht sollte er seinen Pony doch mal beim Frisör kürzen lassen. Sein Vater heulte ihm immerhin schon seit Wochen die Ohren voll.

 

Die Liste mit den Klassen für die Zweitklässler war schnell gefunden und zu seinem Glück begann sein Nachname mit U, weshalb er relativ weit vorne stehen musste und so Zeit beim Suchen sparen konnte. Er wusste, dass er nach englischem Alphabet am komplett anderen Ende hätte stehen müssen und sich dorthin kämpfen zu müssen, war mit einer ordentlichen Portion Aufwand verbunden.

 

Erst in der dritten Spalte – die für die Klasse 2-C – konnte er seinen Namen schließlich entdecken. Zwischen Usui und Kashiwagi stand sein Nachname Umemiya an vierter Stelle. Das bedeutete, dass er in diesem Schuljahr nicht mehr ganz vorne saß. Dort bestand immer die Gefahr, dass er plötzlich drangenommen werden könnte und das hieß eine Menge Stress für den Siebzehnjährigen, den er sich gerne ersparen würde. Er hatte genug damit zu tun, überhaupt zuzuhören und dem Unterricht zu folgen.

 

„Aus dem Weg, wenn ihr fertig seid!“ hörte er die Rufe der Älteren und erkannte dies als sein Zeichen, um zum Klassenraum zu laufen. Ein letzter Blick auf die Raumnummer und eine mentale Wegbeschreibung gezeichnet – schon war er im Gebäude verschwunden. Die Gänge waren laut und nicht viel leerer als das Gedrängel vor dem Eingang. Als Zweitklässler musste er in den zweiten Stock und suchte sogleich einen der Treppenaufgänge, die an jedem Ende des Hauptflures zu finden waren. Aus Erfahrung konnte er sagen, dass der linke seltener benutzt wurde als der rechte. Das lag daran, dass die ganzen Sportclubs die Abkürzung über den Ausgang an der rechten Treppe nutzen würden, um zur Turnhalle oder zum Sportplatz zu gelangen.

 

Die zweite Etage war nicht mehr ganz so überlaufen wie die erste. Er konnte einige seiner alten Klassenkameraden vor den Räumen stehen sehen. Sie winkten ihm freundlich zu und begrüßten den Rotschopf, doch dieser hob nur abwesend seine Hand und eilte an ihnen vorbei. Er wollte um jeden Preis vermeiden, dass sie ein Gespräch mit ihm beginnen würden. Oft genug hatte er im letzten Jahr mit ihnen gesprochen. Und jedes Mal war sein Vater das Thema Nummer Eins.


Der Umemiya redete eigentlich gerne über die Errungenschaften seines Alten. Er war eine lebende Schamanenlegende, hatte einen starken Schutzgeist und konnte manchmal echt cool sein. Aber es waren nicht seine Erfolge, über die die anderen reden wollten. Es waren seine Fehler und Macken. Seine Unterwürfigkeit dem Schamanenkönig gegenüber. Kurz gesagt, er wurde nicht als Legende verehrt. Der große Ryunnosuke Umemiya war für das gemeine Volk eine Witzfigur. Nichts mehr als eine Lachnummer.

 

Und das hatte er sich teilweise selbst zuzuschreiben. Sein erster Fehler war es, seinen eigenen Sohn zum Spott seiner Schulzeit zu machen und damit seinen größten Fan zu vergraulen. Wie er das geschafft hatte? Nun… Er wollte aus seinem Jungen, seinem eigenen Fleisch und Blut auch eine große Nummer machen. Und jeder sollte Respekt vor ihm haben. Jeder sollte ihn seit seiner Geburt als etwas Besonderes ansehen. Er hatte sein Ziel erfüllt. Sein Sohn war etwas Besonderes. Besonders lächerlich.

 

Ryunnosuke Umemiya durfte über den Namen seines Kindes entscheiden. Er selbst trug den Beinamen „Holzschwert Ryu“ – der Name war Programm und machte viel für seine persönliche Entwicklung aus. Er wurde wegen seines Spitznamens gefürchtet. Verehrt. Manchmal auch verfolgt. Er war sein Aushängeschild. Und genau so ein Aushängeschild wollte er für seinen Erstgeborenen.


Er nannte seinen Sohn Kitsune, was Fuchs bedeutete.

„Wenn du einmal ein großer Bandenführer wirst, hast du den genialsten Namen aller! Und er ist nicht nur ein Spitzname, nein! Du wirst so viel cooler als die anderen sein!“ hatte er seinem Kind damals erklärt. Weshalb seine Frau – Kitsunes eigene Mutter! – diesen Namen abgesegnet hatte, konnte er sich nicht erklären. Weshalb die Stadt Tokyo ihren Stempel darunter gesetzt hatte erst recht nicht!

 

Ryu hatte Recht behalten, sein Sohn wurde von Anfang an bemerkt. Nur war sein Auftreten nicht unbedingt das, was man von einem coolen Anführer erwarten konnte. Kitsune war ein schüchternes Kind. Er redete nicht viel, weinte dafür umso öfter. Jede kleinste Verletzung musste sofort mit bunten Pflastern versorgt werden. Wenn er geärgert wurde, rannte er sofort zu seinem Papa. Schlicht gesagt: Er war eine Memme. Und das merkten auch die anderen Kinder.

 

Aus Kitsune, dem brillianten Bandenboss wurde Kitsune, das totale Weichei. Wenn Menschen hörten, wie sein Name lautete, fingen sie sofort an zu lachen. Seine gesamte Mittelschulzeit hatte er allein verbracht. Dazu war man als Sohn eines Schamanen – egal welches Kalibers – nicht unbedingt eine besonders beliebte Person. Er war ständig nervös. Immer wieder stellte er sich die Frage, wann das nächste Kind seinen Namen rufen würde. Ausgelacht, gemieden und verhöhnt – und das alles nur wegen seines lächerlichen Namens.

 

In der Oberschule hatte Kitsune seinen Loser-Ruf hinter sich gelassen. Er war jetzt nur noch der mit dem komischen Namen. Das war eine große Steigerung und darauf war der Jugendliche sehr stolz gewesen. Sein Vater trug dazu jedoch nicht bei. Er war immer noch davon überzeugt, die richtige Namenswahl getroffen zu haben. Das hatte ihre Beziehung zueinander bröckeln lassen. Mittlerweile konnten sie wieder vernünftig miteinander reden, aber ein inniges Vater-Sohn Verhältnis bestand allein aus diesem Grund nicht mehr. Es war schade, aber nicht zu ändern.

 

Kitsune atmete tief ein. Er berührte die Schiebetür zu seinem eigenen Klassenzimmer. Seine Nervosität konnte er bis heute nicht ablegen. Sie begleitete ihn auf Schritt und Tritt. Wie eine innere Alarmanlage, schlug sein Körper auf jede kleinste Bemerkung an. Seine Wangen erröteten schneller als die der anderen. Deshalb hielt er Abstand. Keine Kontakte hieß weniger Gespräche. Und weniger Gespräche hieß mehr Ruhe. Das war alles, was der junge Umemiya sich wünschte.