Kapitel 2: Ehre, wem Ehre gebührt

 

Kitsune hatte Glück. Es waren noch nicht sonderlich viele Schüler im Klassenzimmer, die ihn hätten wiedererkennen können. Während er zu seinem Sitzplatz schlurfte, konnte er zwei Mädchen aus seiner letzten Klasse entdecken, die ihn jedoch gar nicht erst beachteten und sich gegenseitig von ihren letzten Tagen erzählten. Gut für ihn, immerhin wollte er nicht schon wieder sofort auffallen. Leise schob er seinen Stuhl nach hinten und setzte sich in die vorletzte Reihe.

 

Der Ausblick aus dem Fenster war nichts Besonderes. Er konnte den Schulhof bis zur Turnhalle überblicken und einige Stellen der Außenanlage erkennen, aber ansonsten gab es weit und breit nur reihenweise Hochhäuser. Büros, Aussichtsplattformen, kleine Läden, die mit allerhand seltsamen Krimskrams gefüllt waren – Shibuya konnte vieles bieten. Im letzten Schuljahr blieb Kitsune häufig nach der Schule in diesem Stadtteil und erkundete die zahlreichen Gassen und Straßen. Er hatte dabei sogar einen seiner Lieblingsläden gefunden: Er wurde von Indianern des Patch-Stammes geführt und sie verkauften dort handgemachte Souvenirs. Es waren jedoch nicht die Schlüsselanhänger, weswegen Kitsune oft dort vorbeischaute. Es waren die Gespräche mit den beiden Eigentümern.

 

Abgesehen von seinem Vater und der Familie des Schamanenkönigs hatte er nämlich bisher noch keine Schamanen kennengelernt. Und dabei liebte er doch die Geschichten, die ihm sein Papa erzählte, so sehr. Wie sie wochenlang in einer Wüste umhergeirrt waren, wie sie unzählige Kämpfe in Amerika bestritten haben, wie sie sich weiterentwickelt haben. Damals schien es unglaublich viele Schamanen gegeben zu haben, die sich alle beim großen Schamanenturnier getroffen hatten und ihre Kräfte gegeneinander testen konnten. Wäre Kitsune früher geboren, hätte er das sicher auch alles miterlebt. Aber so blieben ihm nur die Erinnerungen der älteren Generation.

 

Deshalb war gerade dieser kleine Shop eine wahrhaftige Oase mitten in Tokyo. Die beiden Männer, die sich abwechselnd um den Laden kümmerten, waren Schiedsrichter beim letzten Turnier gewesen und hatten demnach viel mehr Wissen angesammelt, welches sie weitergeben konnten. Und dazu waren sie noch ziemlich sympathisch. Einer von ihnen besaß außerdem mehrere Schutzgeister – das allein machte ihn schon zu einem wahren Schatz. Kitsunes Vater selbst hatte nur einen einzigen Schutzgeist und weigerte sich, ihn an seinen Sohn weiterzugeben. Deshalb hatte der junge Schamane nicht wirklich viel mit dem Schamanentum am Hut – ohne einen Schutzgeist konnte er nicht trainieren und war damit einfach nur ein normaler Schüler. Doch irgendwann würde er einen Geist finden und mit diesem eine Bindung aufbauen; sollte sein Alter ihm nicht schon vorher endlich Tokagero vermacht haben.

 

Er wandte sich vom Fenster ab und nahm sich vor, auch heute wieder zum Patch-Shop zu gehen. Silva war heute wieder da und er wollte mehr über seine Schutzgeister erfahren. Bisher hatte er nur den Bison und den Adler kennengelernt, aber er wusste, es gab noch mehr von ihnen. Vielleicht würde er ihm ja einen geben? Immerhin war Silva schon recht alt und könnte seine Schamanenlaufbahn eigentlich bald beenden, wenn er wollte. Und mal ehrlich? Wer brauchte schon mehr als zwei Schutzgeister? Sie für sich zu behalten, während andere Schamanen keinen einzigen hatten, war nicht besonders fair.

 

„Kitsune!“

 

Ein Ruf riss ihn aus seinen Gedanken und sofort spannte sich sein gesamter Körper an und ging in den Schutzmodus über. Der Junge sah auf und konnte ein Mädchen vor ihm lächeln sehen. Auch sie war aus seiner ehemaligen Klasse, aber konnte sich einfach nicht an ihren Namen erinnern. Sie war jedoch ganz nett, hatte nie bei denjenigen mitgemacht, die sich über ihn lustig gemacht hatten. Ihr glänzendes, schwarzes Haar lag ruhig auf ihren Schultern, während sie in Richtung Tür zeigte.

 

„Die Versammlung fängt an! Alle anderen sind schon vor gegangen, du solltest dich beeilen“, sagte sie und lief wieder los. Ein anderes Mädchen wartete vor der Tür auf sie und murmelte etwas, was Kitsune nicht verstehen konnte, weil sie so weit weg war. Dankbar nickte er, obwohl das Mädchen schon längst nicht mehr vor ihm stand, und begab sich in Richtung Turnhalle. Es war Tradition, dass zum Start eines jeden Trimesters alle Schüler und Schülerinnen der Schule sich in der Turnhalle trafen und dort der Begrüßung des Direktors lauschten. Im ersten Trimester werden außerdem die neuen Erstklässler – oder zumindest diejenigen, die etwas Besonderes geleistet hatten – vorgestellt. Und er wusste jetzt schon, wer dort gleich auf der Bühne stehen würde.

 

 

In der Turnhalle waren die einzelnen Klassen bereits nach Schülernummer in Zweierreihen aufgestellt und Kitsune musste sich beeilen, um nicht negativ aufzufallen. Immerhin sollte er in der zweiten Reihe stehen und war demnach fast ganz vorne. Mit gesenktem Kopf ging er an dem Mädchen, das ihm eben noch Bescheid gegeben hatte, vorbei, und stellte sich in die einzige Lücke, die noch übrig war. Der Junge neben ihm war etwas größer als er, schien ihn jedoch nicht zu bemerken. Er hatte seine Augen geschlossen und döste ruhig vor sich hin. Manchmal fiel sein Kopf ein paar Zentimeter nach vorne und dann schnell wieder zurück, weshalb Kitsune vermutete, dass er tatsächlich eingeschlafen war.

 

Die Schulglocke spielte ihr Lied vor sich hin und läutete damit den Beginn des Schuljahres ein. Sogleich verbeugten sich alle Anwesenden und begrüßten damit die Lehrer und den Direktor, die eben die Bühne betraten. Der Mann mit dem brandneuen schwarzen Anzug und der gegelten Frisur erzählte etwas über die Tradition der Schule, ein bisschen etwas über die Zukunft der aktuellen Drittklässler und Neuanfänge für die neuen Oberschüler. Generell also eher weniger interessantes Zeug. Die Schülerschaft schien genauso gelangweilt wie Kitsune, der sich neben seinem schlafenden Nachbar extrem zusammenreißen musste, nicht selbst die Augen zu schließen.

 

Dann folgte der noch viel langweiligere Teil der Zeremonie: Alle neuen Erstklässler wurden klassenweise namentlich genannt. Warum dies immer noch geschah, war dem jungen Umemiya ein Rätsel. Die ganze Prozedur dauerte ungefähr eine Viertelstunde, die man sich gut und gerne hätte sparen können. Immerhin würde sich sowieso niemand auch nur einen Namen erinnern – zumindest nicht, wenn nicht ein Kitsune Umemiya darin vorkommen würde. Letztes Jahr gab es seinetwegen tatsächlich ein kurzes Raunen und Gemurmel brach aus. Darauf zurückblickend dachte sich der Junge mit den roten Haaren, dass einige Traditionen doch gut und gerne einmal gebrochen werden könnten.

 

 

Schließlich kam das, worauf er gewartet hatte: Die vielversprechendsten Schüler des neuen Jahrgangs wurden auf die Bühne gebeten und wurden vor den Augen aller „Normalos“ in den Himmel gelobt. Er selbst konnte sich nicht an diejenigen, die aus seinem Jahr dort standen, erinnern, aber das würde sich dieses Mal ändern. Er konnte bereits das ihm bekannte Gesicht zur Bühne schlendern sehen. Ihr Blick war nichtssagend – wie immer. Sie und ein anderes Mädchen stellten sich brav neben den Direktor und waren damit das Zentrum aller Aufmerksamkeit.

 

„In diesem Jahr dürfen wir zwei außergewöhnliche junge Damen an unserer Schule begrüßen“, begann der Direktor seine Rede und strahlte über beide Ohren. Waren die „besonderen“ Schüler üblicherweise einfache Kinder mit halbwegs guten Noten gewesen, gab es dieses Jahr tatsächlich etwas, worüber man als Schule stolz sein könnte. Der Mann mittleren Alters deutete mit seiner Hand auf das erste Mädchen und damit auf Kitsunes Interessengebiet.

 

 

„Chizuru Umemiya ist ein wahres Wunderkind. Seit sie sechs Jahre alt war, lernte sie den Bass spielen und machte schnell Fortschritte. Mit zehn Jahren gewann sie ihren ersten Talentwettbewerb an ihrer Grundschule und wurde von einem kleinen Plattenlabel gescoutet. Die nächsten sechs Jahre verbrachte Chizuru damit, in ihrer Schülerband Lieder zu schreiben und zu komponieren. Sie spielte bereits für einige Werbespots ihre Musik ein. In diesem Jahr wurde sie von einem der größten Musikentertainments unter Vertrag genommen und soll noch vor ihrem Abschluss in einer Band als Bassistin debütieren. Wir, die Soka High, sind sehr stolz, dass sie ihre Bildung an unserer Schule genießen wird.“

 

Als würde er von seiner eigenen Tochter sprechen, sprießten die Worte nur so aus ihm heraus. Seine Augen funkelten sie fröhlich an und es wirkte fast so, als würde er gleich vor ihr auf die Knie gehen und ein Autogramm verlangen. Es war amüsant ihm dabei zuzusehen, wie er absolut nicht von Chizuru beachtet wurde. Sie stand dort oben ihre Zeit ab und wollte einfach nur zurück zu ihrer Klasse. Kitsune konnte ihren Gedankengang förmlich sehen. „Hör auf zu reden, alter Sack!“ stand ihr quer über das Gesicht geschrieben und er konnte sich ein kurzes Kichern nicht verkneifen.

 

Chizuru war seine jüngere Schwester. Das jüngste Kind von Ryunnosuke Umemiya und damit eines seiner beiden Schätze. Es gab eine Zeit, in der Kitsune seine Schwester abgrundtief gehasst hatte. Sie hatte einen vernünftigen Namen und fiel demnach allein durch ihr musikalisches Talent auf und nicht durch ihren Namen. Er konnte sich nie erklären, woher ihr Gespür für qualitative Musik herkam, waren doch beide seiner Eltern absolut nicht bewandt in dem Thema. Ryu war ein Schamane durch und durch und trällerte vielleicht hier und da ein wenig vor sich hin. Aber das hatte absolut nicht mit dem zu tun, was Chizuru leistete. Und ihre Mutter hatte andere Talente. Sie war ein äußerst sozialer Mensch – diese Ader hatte keines ihrer Kinder vererbt bekommen.

 

 

Später hatte Kitsune realisiert, dass seine Schwester kein unangenehmer Mensch war. Obwohl sie nicht besonders gesprächig war, konnte sie ihn allein mit ihrer Anwesenheit in seinen nervösen Phasen wieder runterbringen. Sie war so etwas wie ein Felsen, an dem sich der in die reißende Strömung gefallene Junge festhalten und wieder hochziehen konnte.  

 

 

Kitsune grinste, als er sah, dass Chizuru ihn in der Menge entdeckt hatte. Ihr Gesicht verriet es nicht wirklich, doch er war ziemlich gut darin, ihre Augen zu lesen. Sie rief nach Hilfe, hätte am liebsten ihren Platz mit ihrem Bruder getauscht und wollte einfach gerade woanders sein. Als Antwort darauf legte er seinen Kopf schief und lächelte sie an. „Sorry, kann dir nicht helfen“ war die Nachricht.

 

Plötzlich streckte der Direktor eine Hand nach ihr aus, als er seine Rede beendet hatte. Er versuchte wohl, ihren Kopf als Lob zu streicheln. Und obwohl Chizuru charakterlich absolut nicht mit ihrem Vater verglichen werden konnte; es gab eine Sache, die die beiden zu Tochter und Vater machte. Chizuru hasste es abgrundtief, wenn jemand ihren Haaren zu nahe kam. Ihren wunderschönen, glatten schwarzen Haaren. Ryus Erbe. Heute trug sie sie komplett offen, doch meistens hatte sie irgendwelche geflochtenen Strähnen oder Zöpfe, die niemand berühren durfte. Auch ihr Pony saß stets perfekt über ihren Augen und wurde wöchentlich geschnitten. Diese Arbeit durfte einfach niemand zerstören.

 

Chizuru wich der Hand des Direktors gekonnt aus, sodass er überrascht ins Leere griff und gar nicht merkte, dass sie ihn abgewehrt hatte. Doch das ließ ihn nicht aus dem Konzept bringen, da er sich sogleich dem zweiten Mädchen widmete. Dieses musterte Chizuru aus dem Augenwinkel heraus. Ihren Blick konnte Kitsune nicht deuten, aber anscheinend war sie nicht sonderlich von ihrer Mitschülerin angetan.

 

„Unsere zweite Ehrenschülerin ist Mei Tao.“

 

Mehr konnte der Direktor nicht sagen, da unmittelbar danach jeder anfing zu flüstern. Auch Kitsune traute seinem Gehör kaum: Hatte er wirklich Tao gesagt? Die Familie Tao? Er hatte viel von ihnen gehört: Das Oberhaupt der Taos soll ein einflussreicher Adliger aus China sein, der von dort aus ein riesiges weltweites Imperium aufgebaut hatte. Sämtliche Mitglieder seiner Familie waren einflussreiche Menschen, die überall auf der Welt verteilt ihre eigenen Firmen gegründet hatten. Und keine von diesen machte Miese. Im Gegenteil: Sie alle nahmen einen Platz in der Top 10 ihres Landes ein.

 

Doch es war ein anderer Fakt, der besonders Kitsune beschäftigte. Die Taos waren nicht nur für ihre enorme wirtschaftliche Macht bekannt. Sie waren großartige Schamanen. Einer der Freunde seines Vaters war ein solcher Tao. Ren Tao, der Sohn des großen Yuan Tao. Ryu hatte viel von ihm erzählt; damals war er ein sehr ehrgeiziger, selbstbewusster Junge, der unbedingt Schamanenkönig werden wollte. Er kämpfte zwar in einem anderen Team als Ryu, aber sein Vater schwor auf die enorme Kraft, die von Ren ausging. Er respektierte den Tao sehr.

 

Kitsune schaute zurück zur Bühne. Mei Tao hatte violette Haare, die zu einem seitlichen Zopf geflochten waren. Ihre hellen roten Augen sahen geradewegs nach vorne. Es machte ihr anscheinend nichts aus, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Ganz im Gegenteil: Sie schien es zu genießen. Ihre Mundwinkel waren zu einem breiten Grinsen nach oben gezogen.

 

„Ruhe bitte! Wo war ich noch gleich?“, rief der Direktor in sein Mikrofon und die Masse verstummte. „Mei bewies in der Vergangenheit mehrfach ihre herausragenden Fähigkeiten in den Schulfächern Japanisch, Biologie und Geschichte. Seit drei Jahren erreichte sie in sämtlichen Prüfungen dieser Fächer durchgehend 100 Prozent und brach damit die Rekorde an ihrer Mittelschule. Ihre Intelligenz ist auch den Medien nicht unerkannt geblieben und sie wurde bereits zu zwei Talkshows eingeladen, in der über historische Ereignisse debattiert wurde. Die dort anwesenden Historiker erkannten Meis überaus breit gefächertes Wissen mit großer Bewunderung an.“

 

Anders als bei Chizuru wurde die Schülerschaft unruhig. War der Name „Tao“ bereits ein Aushängeschild für sich, war sie zusätzlich dazu auch mit einem enormen Wissen ausgerüstet. Das hieß, dass sie definitiv eine erfolgreiche Zukunft haben würde. Und wer wollte davon schon nicht profitieren? Nicht wenige Schüler der Soka stammten aus ganz normalen Familien und würden später nicht sonderlich hoch auf der Karriereleiter kommen. Allein der bloße Bekanntenstatus mit Mei würde einen außergewöhnlichen Karriereaufstieg bedeuten. Und dem waren sich die Jugendlichen durchaus bewusst.

 

 

Auch Kitsune musste näher an dieses Mädchen herankommen. Wenn sie eine Tao war, konnte er vielleicht über sie an Informationen zu Ren gelangen. Sein Vater hatte keinen Kontakt mehr zu seinen früheren Freunden und damit anderen legendären Schamanen. Das fand sein Sohn mehr als schade – aus offensichtlich subjektiven Gründen – und er hatte gerade mit diesem Mädchen seine erste Spur zu einer der anderen Legenden entdeckt. Diese würde er garantiert nicht ignorieren.

 

Komme, was wolle!