Kapitel 3:

 

 

Der Gedanke ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er musste mit dieser Mei Tao sprechen! Und er wusste genau, wie er an sie herankam. Er hatte immerhin einen Informanten unter den Erstklässlern. Oder besser gesagt: Eine Informantin.

 

Nach dem Unterricht war Kitsune der erste, der den Klassenraum verließ. Er rannte förmlich die Treppen herunter, bevor sie zu voll wurden und es kein Durchkommen mehr gab. An den Schuhspinden wechselte er in seine Straßenschuhe, verstaute seine Latschen und eilte zum Schultor. Dort wartete sie bereits. Sie war immer pünktlich, das war eine äußerst gute Angewohnheit, die sie hatte. Und gerade an einem Tag wie diesen musste Kitsune sie einfach wertschätzen.

 

„Chizuru, ich muss dich um etwas bitten!“ rief er außer Puste, als er bei seiner Schwester ankam. Sie blickte auf seinen gekrümmten Körper herab, der sich von dieser ungeplanten sportlichen Aktivität erst einmal erholen musste. Geduldig wartete die Schwarzhaarige darauf, dass sich seine Energie regenerieren würde. Währenddessen strömten die anderen Jugendlichen an den beiden vorbei durchs Tor, um den ersten freien Nachmittag des Schuljahres zu genießen. Viele davon würde es nicht geben, da die Soka eine strenge Club-Pflicht besaß. Ab morgen würden Vertreter der einzelnen Clubs die Neulinge auf dem Schulgelände abfangen, um sie für ihre AG’s anzuwerben. Davon würde Chizuru nicht verschont bleiben, trotz ihres jetzt schon stressigen Alltages.

 

Bis zum Ende des letzten Schuljahres war Kitsune ein Mitglied der Schülerzeitung. Er hatte dort einen einzigen Artikel unter seinem Namen zum Thema Schamanen veröffentlicht, was einen ziemlich großen Beitrag zu seinem Mobbing geleistet hatte. Mitschüler, die seinen Namen gelesen hatten, beschwerten sich bei der Schulleitung, da es verboten war, etwas unter einem Pseudonym zu schreiben. Als später die Aufklärung folgte, dass Kitsune sein wirklicher Name war und diejenigen, die sich beschwert hatten, demzufolge als Lügner bezichtigt wurden, wurde er schnell zum Ziel ihrer Schikane. Der junge Umemiya hatte daraufhin nie wieder etwas zur Zeitung beigetragen und wurde deswegen schließlich im März „freundlich“ aus dem Club geworfen.

 

Als sich der Junge mit den lilafarbenen Augen wiederaufrichtete, sah seine Schwester ihn weiterhin an und wartete darauf, dass er etwas sagte. Kitsune war sehr dankbar dafür, dass Chizuru ihm die Zeit gab sich zu sammeln. Schließlich brachte er seine Bitte hervor: „Das Mädchen, mit dem du heute auf der Bühne standest. Ich muss sie finden.“

 

Ihre Augen verkleinerten sich zu winzigen Schlitzen und ihre Augenbrauen hoben sich langsam an. Chizuru fuhr sich mit ihren Fingerspitzen über ihre Haare, während sie auf weiteren Input seitens des aufgeregten Teenagers vor ihr wartete. Doch dieser wurde gerade von einem anderen Gedanken, der ihm in den Sinn kam, abgelenkt.

 

Es gab einen Grund, weshalb Chizuru hier auf ihn gewartet hatte. Und den hatte er beinahe vergessen. Es war Tradition, dass ihre Mutter sie zu Beginn eines jeden Trimesters zum Eisessen einlud. Kitsune selbst sah sie nicht besonders häufig, da sie tagsüber oft schlief und wenn er am Abend vom Club zurückkam, war sie bereits auf Arbeit verschwunden. Umso dankbarer war er dafür, dass sie sich diesen einen Tag dreimal im Jahr freihielt, um ihn gemeinsam mit ihren Kindern zu feiern. Schnell blickte er auf sein Handy, welches ihm die aktuelle Uhrzeit anzeigte. Sie waren noch pünktlich, sollten sich aber allmählich auf den Weg machen.

 

Auf dem Weg zum Treffpunkt – einem kleinen Café in einer Seitenstraße im Zentrum Shibuyas – erzählte Kitsune seiner kleinen Schwester von seinem Vorhaben Ren Tao ausfindig zu machen. Er verriet ihr auch, dass er sich von der neuen Eliteschülerin ein paar Anhaltspunkte zu seinem Aufenthaltsort und vielleicht zusätzliche Informationen erhoffte. Chizuru nickte dies ab; sie wusste um die Besessenheit mit Schamanen – insbesondere den Legenden – ihres Bruders nur zu gut Bescheid. Sie selbst war nicht besonders interessiert an diesem Thema, obwohl auch sie wie ihr Bruder die Gabe ihres Vaters geerbt hatte und Geister sehen konnte.

 

Das Café, das die beiden schließlich betraten, war bekannt für seine Eisbecher. Sie waren hübsch dekoriert und der Inhaber des Ladens machte das Eis selbst, was ihm erlaubte, exklusive Sorten ins Angebot aufzunehmen. Jede Woche gab es eine andere Eissorte, die zum Sortiment gehörte, während eine andere von der Karte verschwand. Kitsune selbst hatte bisher Glück gehabt. Seine Lieblingseissorte – Nougat Krokant – war bisher noch nicht verschwunden. Chizuru musste sich allerdings schon zweimal eine neue Eissorte aussuchen, da es diese plötzlich nicht mehr gab.

 

Die Geschwister setzten sich in eine der Sitzecken im zweiten Stockwerk. Von dort aus konnten sie das Café sowie die Straße davor gut im Auge behalten. Da sie wussten, welches Eis ihre Mutter gerne essen wollen würde, konnten sie bereits bestellen und warteten nun auf die Dritte im Bunde.

 

Chizuru strich gelangweilt über den Bildschirm ihres Smartphones. Sie hatte unzählige ungelesene Nachrichten, die ständig aufploppten. Doch das ließ sie nicht beirren und jedes Mal, wenn eine dieser Nachrichten am oberen Bildschirmrand auftauchte, war sie schon wieder verschwunden. Es hatte sich ein richtiger Automatismus bei der schwarzhaarigen Bassistin entwickelt, der es ihr erlaubte, ein wenig ungestörter zu leben.

 

Im Gegensatz dazu blieb Kitsunes Handy die meiste Zeit über stumm. Er hatte nicht sonderlich viele Kontakte außerhalb seiner Familie. Die einzigen Personen, die er überhaupt eingespeichert hatte, waren Chizuru, seine Eltern, die Asakuras und die Mitarbeiter des Patch Cafés. Unabhängig davon stellte er sein Handy sowieso die ganze Zeit auf stumm, da er weder Vibrationen noch laute Klingeltöne sonderlich leiden konnte. Er erschreckte sich dadurch nur immer wieder unnötigerweise.

 

„Chizu! Tsune!“

 

Die helle Stimme der rothaarigen Frau tönte durch das Café. Eilig huschte sie hinüber zu ihren Kindern. Einen Kuss auf die Wange ihrer Tochter, eine dicke Umarmung für ihren Sohn. „Tsune, wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen! Bist du größer geworden? Wie geht es deinem Papa?“ Sofort bombardierte sie den überforderten Jungen mit Fragen. Ihr breites Grinsen verriet, wie sehr sie sich über dieses Treffen freute.

 

Tatsächlich waren es schon zwei Monate gewesen, in denen Kitsune und seine Mutter keinen persönlichen Kontakt miteinander hatten. Seine Eltern waren seit mehreren Jahren geschieden. Er selbst lebte bei Ryu, während Chizuru und seine Mutter zusammen wohnten. Ihm war nicht wirklich klar, warum seine Eltern nicht unter einem Dach lebten, wenn sie sich seiner Meinung nach viel zu gut für geschiedene Eheleute verstanden. Die Scheidung selbst war auch nicht besonders ereignisreich gewesen und immer, wenn Kitsune nach dem Grund fragte, wurde ihm nur gesagt, dass die beiden sich einfach nicht mehr genug liebten. Kein Rosenkrieg.

 

Dafür, dass Chizuru bei ihrer Mutter leben durfte, beneidete Kitsune sie. Misa Kikuchi – so lautete der Mädchenname seiner Mutter, den sie nach der Scheidung wieder angenommen hatte – war eine unglaublich starke Frau. Sie betrieb ein eigenes Izakaya inmitten von Shinjuku, das durch ihr selbstbewusstes Auftreten als „Mama Misa“ besonders gut bei den Menschen ankam. Sie wusste, wie sie die hauptsächlich männliche Kundschaft im Zaun halten konnte, und war durchaus in der Lage, gewisse Herrschaften auch wieder vor die Tür zu setzen, wenn sie sich nicht benehmen konnten. Kitsune liebte die Power und Ausstrahlung seiner Mutter. Außerdem war sie nicht diejenige, die ihm seinen blöden Namen gab. Um ihn damit nicht weiter zu belasten, nannte sie ihn deshalb auch Tsune. Das allein hob sie schon viel höher als seinen Vater.