Ungewohnte Stille

 

Bevor die kleine Gruppe das Zimmer von Ju Lyn betreten konnten, drehte sich die Krankenschwester mit ihrem Klemmbrett noch einmal um. "Ihrer Freundin geht es soweit ganz gut. Sie kam mit mittelschweren Quetschungen in die Notaufnahme und wurde daraufhin nach inneren Verletzungen untersucht. Glücklicherweise sind ihre Organe allesamt intakt und sie wird in ein paar Tagen wieder entlassen werden können."

 

Natsukis Gesicht erhellte sich und sie drehte sich um. Auch Min sah erleichtert aus, sah sie jedoch nicht an. Yoh legte seine Hand auf ihre Schulter und lächelte sie warm an. "Hier entlang", bat die Schwester und öffnete die Tür zu einem der Zimmer. Nummer 611.

 

Dort konnten sie Sada am Fenster stehen sehen, welche sich sofort umdrehte, um ihre Freunde willkommen zu heißen. Ju Lyn war wach und lächelte gequält. Die Krankenschwester verabschiedete sich und schloss die Tür beim Gehen.

 

Min stürzte sich auf ihre Freundin und konnte sich ihre Tränen nicht weiter verkneifen. Auch Natsuki hielt ihre Tränen nicht mehr zurück und versuchte sich hinter ihrer Hand zu verstecken. Ryu schob sie sachte zum Bett. "Du lebst!" schluchzte sie.

 

"Hey, nicht so dramatisch", lachte Ju Lyn und verzog kurz ihr Gesicht. Sie schien Schmerzen zu haben beim Lachen. "Mir geht es gut. Ihr müsst euch keine Sorgen machen." Langsam versuchte sie sich aufzurichten und tätschelte dabei Mins Kopf. Man konnte für einen kurzen Moment ihre mit Blutergüssen übersehenen Unterarme sehen.

 

"Wir sollten uns überlegen, wie wir Ikara das nächste Mal entgegentreten", sprach Sada und schaute bedrückt zur Seite. Ju Lyn nickte stumm. Doch keiner hatte eine Idee, wie man sich ihr gegenüber zur Wehr setzen konnte.

 

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"Wir kommen morgen wieder!" verabschiedeten sich die Schamanen. Ju Lyn winkte ihnen hinterher. Akane blieb bei ihr, wie erwartet. Sie hatte sich und ihrer Meisterin geschworen, sie nie wieder alleine zu lassen und wenn sie dabei ausgelöscht werden würde.

 

Der Heimweg war genauso ruhig wie die Fahrt zum Krankenhaus. Obwohl diesmal keine Tränen flossen. Es fühlte sich seltsam an ohne Ju Lyn. Nicht anders erging es den Jugendlichen, als sie Yohs Haus betraten. Erschöpft ließen sich einige auf das Sofa fallen und andere auf die Stühle. Draußen dämmerte es schon wieder. Bald müssten wieder die Kämpfe für den nächsten Tag angesagt werden.

 

"Ich koche heute", entschied Ryu und verschwand in der Küche. Man hörte kurz das Klappern von Töpfen und Tellern. "Und was machen wir jetzt schönes?" fragte Trey und versuchte die Stimmung zu heben. Doch keiner reagierte darauf. Alle blickten nachdenklich ins Leere. "Hallo?" versuchte er es noch einmal, doch selbst dann kam keine Reaktion. 

 

Plötzlich sprang Min von der Couch und lief ohne eine Wort zu sagen ins obere Stockwerk. "Okay?" Gerade wollte Trey ihr hinterher, als sie auch schon wieder runter kam. Sie trug Sportklamotten. "Gehst du laufen?" fragte er sie hoffnungsvoll und fügte ein "darf ich mitkommen?" hinzu. Ihn störte diese bedrückende Atmosphäre. Stumm nickte Min und ging zur Tür. Trey beeilte sich und zog sich in Windeseile um.

 

Als die beiden weg waren, rappelte sich auch Natsuki auf. "Falls mich jemand sucht, ich bin im Garten." Somit leerte sich das Wohnzimmer allmählich. Yoh fing an Liegestütze zu machen, nachdem er sich an Annas Notiz erinnert hatte und Ren machte mit. Manta sah nach, was Ryu so machte. Joco kramte ein Kreuzworträtsel aus dem Zeitungsständer und Sada schaltete den Fernseher ein. Dort lief gerade eine Musiksendung.

 

 

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"Willst du nicht mal eine Pause machen?" brüllte Trey, er konnte Min kaum noch folgen. Sie hörte jedoch nicht auf ihn und rannte sogar noch etwas schneller. "Jetzt warte doch mal", hechelte er fix und fertig und beschleunigte ein letztes Mal, bis er ihren Arm zu fassen bekam. Das brachte sie schließlich dazu stehen zu bleiben.

 

Dankbar für ihr Mitleid ging er in die Hocke und musste ein paar Mal tief ein- und ausatmen. Derweil setzte Min sich auf den Zaun, der den Weg eingrenzte. Trey sah ihr an, dass sie nicht bei bester Laune war. "Hey", er hockte sich nun direkt vor Min, sodass sie ihn zwangsweise ansehen musste.

 

"Ihr geht es bald besser", lächelte er. Er mochte es nicht, die sonst so fröhliche Schamanin so zu sehen. "Sieh mal", er zeigte hinter sie und deutete damit auf die Sonne, die fast vollständig untergegangen war. Sie drehte sich um und sah sich den Sonnenuntergang an. Obwohl sie es versuchte, konnte sie ihr Lächeln nicht verbergen. Sie mochte Sonnenuntergänge. "Schon viel besser!" grinste Trey und lehnte sich neben ihr gegen den Zaun.

 

"Dort, wo ich herkomme, sieht man nicht viel von der Sonne. Es ist meistens bewölkt", erzählte er und wollte sie damit weiter ablenken. Verwundert drehte Min ihren Kopf zu ihm. "Das ist schade", flüsterte sie. Das waren die ersten Worte seit langem, die sie gesagt hatte und Trey war irgendwie froh darüber, dass sie ihm galten.

 

"Erzähl mal etwas über dich, ich bin neugierig", wurde er jetzt mutiger. Min dachte kurz nach, aber ihr fiel nichts ein, was interessant gewesen wäre. "Was genau willst du wissen?" fragte sie zurück. "Hm, ich weiß nicht. Alles irgendwie. Wo bist du aufgewachsen zum Beispiel? Oder wie haben sich Raion und du kennengelernt?" Er wandte sich von der Sonne ab, die eh schon hinter dem Horizont verschwunden war.

 

Gerade als Min ihren Mund öffnete, hörten die beiden ein Piepen. Ein Orakel Pager. "Schon wieder nicht", seufzte Min als ihr Bildschirm dunkel blieb. Sie schielte Trey über die Schulter. Der wusste jedoch immer noch nicht, wie er dieses Ding benutzen sollte.

 

"Ich habs gleich", murmelte er und drückte wirr irgendwelche Knöpfe. Schlussendlich war er im Spielemenü gelandet, was für ein Wunder. "Gib her", lachte Min und zog ihn näher an sich heran, um besser draufschauen zu können. Als Trey merkte, wie nah sie wirklich war, musste er sich bemühen nicht rot zu werden.

 

"Schon wieder Natsuki?" rief Min enttäuscht und ließ seinen Arm fallen. Da war die Nähe hin. "Ich glaube, die haben mich vergessen", meckerte sie und sprang vom Zaun. Trey schaute nun auch auf seinen Orakel Pager und stellte fest, dass er morgen ran durfte. Er wusste noch nicht so ganz, wie er Natsuki einschätzen sollte, aber sie würde sicherlich eine harte Nuss werden.

 

"Gehen wir nach Hause? Mir wird kalt." Min rieb sich demonstrativ ihre Arme. "Ja, sicher!" murmelte Trey aus seinen Gedanken gerissen. Ihm war jedoch alles andere als kalt.

 

 

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"Tadaa!" 

Ryu setzte das Tablett auf dem Tisch ab. Es war voller lecker aussehenden Speisen. "Ich bin fest davon überzeugt, dass Ryu ab sofort jedes Mal kocht", rief Manta aus. Ihm lief das Wasser förmlich aus dem Mund.

 

"Was für ein nettes Kompliment", summte Ryu und warf seine Schürze über den Stuhl. Ren schien alles andere als begeistert. Er piekste angewidert in das Hähnchen. "Das nächste Mal bestellen wir chinesisch!" meckerte er. Yoh konnte daraufhin nur lachen. Er nahm sich eine Keule und wollt gerade reinbeißen, als Natsuki ihn unterbrach.


"Wollen wir nicht noch auf Min und Trey warten? Die beiden sollten langsam mal zurück kommen." Sie schaute beunruhigt auf die Uhr. Manta nickte, als er bemerkte, wie spät es bereits war. "Vielleicht sind sie noch einkaufen? Immerhin ist nicht mehr viel im Kühlschrank", bemerkte Ryu. 

 

Sada seufzte nur. "Die werden sich verlaufen haben." Dann nahm sie sich ebenfalls einen Schenkel und biss hinein. Das gab den anderen das Recht auch mit dem Essen anzufangen. "Keine Angst, du bekommst deinen zweiten Sieg schon", sagte Sada und deutete damit auf ihren Kampf mit Trey hin.

 

Nach dem Essen wuschen die beiden Mädchen das Geschirr ab. Kaum war das erledigt, legten sich alle schlafen; der Tag war anstrengend genug gewesen. Yoh hatte extra das Tor nicht abgeschlossen, damit die beiden fehlenden Schamanen trotzdem in das Haus hinein kamen.

 

 

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Mitten in der Nacht wurde Sada wach. Eigentlich wollte sie nur etwas trinken. Doch innerlich wusste sie, dass Natsuki nicht die einzige war, die sich Sorgen machte. Leise stand sie auf und versuchte sie nicht zu wecken. Sie ging den Flur entlang und schließlich die Treppen herunter. Schritt für Schritt.

 

Unten angekommen musste sie schmunzeln. "Ich hab doch gesagt, dass sie sich nur verlaufen haben." Min und Trey lagen durchgenässt auf dem Sofa. Sie trug seine Jacke und hatte es sich auf seiner Brust bequem gemacht. Wahrscheinlich wollten sie niemanden wecken, als sie in der Nacht heim kamen und haben sich deshalb auf das Sofa gelegt. 

 

Sada ging in die Küche und nahm sich eine Dose Tee aus dem Kühlschrank. Als sie zurückkam fiel ihr Blick wieder auf die beiden. Sie blieb eine Weile im Türrahmen stehen und sah den beiden zu, wie sie miteinander kuschelten. Wie eine Mutter, dessen Tochter ihren ersten Freund hatte. Obwohl sie nicht wusste, ob Min vorher schon einen Freund hatte.

 

Genug war genug, dachte sich Sada und ging die Treppe wieder hinauf. Sie verschwendete auch einen kleinen Gedanken an Ryu und fragte sich, wie es wohl wäre mit ihm zu kuscheln. Schnell schüttelte sie ihren Kopf bei diesem abwegigen Vorstellungen. Das würde niemals passieren, oder?