Ein freier Tag

 

Am nächsten Tag beschloss die Gruppe sich aufzuteilen, da es schwierig war, sich in der großen Gruppe zu bewegen. Yoh und Manta begaben sich auf den Weg nach Hause, um Anna von dem Turnier zu berichten. Dort angekommen wurden sie jedoch von gähnender Leere willkommen geheißen.

 

"Anna?" rief Yoh, doch keine Antwort. "Vielleicht ist sie ausgegangen?" fragte Manta und sah sich im Wohnzimmer um. Dort entdeckte er eine Notiz auf dem Tisch. 

 

Verbringe einige Zeit bei Meister Yohmei und Kino.

Macht keinen Unsinn und haltet das Haus sauber.

PS: Ich weiß von dem Turnier. 

Wehe du verlierst den Titel, Yoh.

Vergiss die Liegestütze nicht!

 

Anna

 

"Sie ist also bei deinem Großvater", kommentierte Manta den Brief. Yoh nickte nur und begann damit, das Geschirr, welches auf dem Tisch stand, in die Küche zu räumen. Als er beschäftigt damit war, das Wasser in die Spüle zu lassen, kam ihn ein Gedankenblitz. 

 

"Hey Manta, wenn Anna für einige Zeit weg ist, dann können doch die anderen so lange bei uns wohnen. Was hältst du davon?" Er lächelte ihn hoffnungsvoll an. Der Kleine hatte jedoch so seine Zweifel: "Ich weiß nicht, Yoh. Meinst du nicht, dass sie sauer sein würde, wenn so viele Leute im Haus sind? Mal abgesehen davon, dass es dann wahrscheinlich ist, dass das Haus chaotischer aussieht als jetzt?" Yoh zog daraufhin einen Flunsch. 

 

"Wir haben die anderen schon lange nicht gesehen. Sie wird sicherlich eine Ausnahme machen", grinste er und damit war die Sache entschieden. Manta freute sich insgeheim darüber. Yoh hatte recht, es verging mindestens ein ganzes Jahr, bis sie sich endlich auf einen Zeitpunkt einige, wann sie sich treffen würden. Das ganze endete in einem Camping-Ausflug, der durch das Auftauchen der Mädchen und nun auch durch das unerwartete Schamanenturnier unterbrochen wurde. Sie hatten sich noch so viel zu erzählen.

 

〄〄〄

 

Währenddessen irrte Min allein in Tokyo herum. Sie hatte Ju Lyn irgendwie aus den Augen verloren und fand riesiges Interesse an diesem kleinen Straßenumzug, dass sie sich auf einmal in einem völlig anderen Stadtteil wiederfand. Min war noch nie in einer großen Stadt gewesen, deshalb war dies alles so neu und spannend. Gerade wollte sie eine Straße überqueren, als sie plötzlich ein lautes Hupen vernahm.

 

"Passt doch auf, Kind!" brüllte sie ein wütender Autofahrer an fuchelte wild mit den Armen umher. Als Min sich vor Schock nicht rührte, stieg er aus dem Auto auf und kam mit schnellen Schritten auf sie zu. "Soll das ein Witz sein? Runter von der Straße!" Er schubste sie beiseite, stieg wieder ins Auto und fuhr mit quietschenden Reifen ziemlich dicht an ihr vorbei.

 

Min konnte gar nicht so schnell realisieren, was gerade passiert war. Sie versuchte jedoch erstmal von dieser Kreuzung runter zu kommen, was sich als ziemlich schwer herausstellte, da die Ampeln der Autos gerade auf grün umgeschalten wurden. 

 

"Stell dich in die Mitte auf den Fahrstreifen und warte, bis die Ampelphase beendet ist", hörte sie ihren Schutzgeist rufen. Schnell tat sie, wie befohlen und wartete mitten auf der Straße, bis keine Autos mehr fuhren. Immer mal wieder wurde sie angehupt und großzügig umfahren und störte damit den Fahrfluss. Als schon wieder ein Autofahrer energisch aus dem Auto stieg, bekam sie es mit der Angst zu tun.

 

"Hey, lass sie los!" brüllte auf einmal jemand von Weitem. Sie öffnete ihre Augen, die sie aus Angst geschlossen hatte und bemerkte dann erst, wie sich eine Hand an ihrer Schulter befand. Erschrocken schlug sie diese beiseite und stolperte einige Schritte nach hinten. Der Autofahrer streckte ihr den Mittelfinger entgegen und rannte zurück zu seinem Wagen.

 

"Komm gefälligst von der Straße runter!" hörte sie eine andere Stimme und drehte sich in dessen Richtung. Es war Ren, der in Begleitung von Trey war. Min war heidenfroh, dass sie jemanden gefunden hatte, den sie kannte. Sie huschte zwischen die Autos und fand sich keuchend neben den beiden Schamanen wieder. "Vielen Dank!" rief sie und streckte Ren die Hand aus. Sie wusste, dass er sie vor dem Mann bewahrt hatte. Doch dieser schnalzte nur genervt mit der Zunge und lief in eine andere Richtung.

 

Trey und Min sahen ihm verwundert hinterher. Gemeinsam beschlossen sie dann aber, ihm zu folgen.

 

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Ju Lyn war mittlerweile außer sich vor Sorge. Sie suchte Min jetzt bereits seit einer Stunde und hatte in mehreren Läden nach ihr ausrufen lassen, doch sie war nirgends zu finden. Nicht einmal dieser dumme Orakel Pager konnte ihr eine Auskunft geben, wo ihre Freundin war. Sie malte sich innerlich die schlimmsten Vermutungen aus. Min sei gekidnappt worden oder noch schlimmer, sie wurde vielleicht von Sklavenhändlern verkauft.

 

In ihren verstörenden Gedanken versunken, stieß sie gegen eine Person. Sie wollte diese gerade anmeckern, als sie bemerkte, dass es Ryu war. Er saß auf seinem Motorrad und kämmte sich gerade die Haare. "Ryu!" schrie sie ihn an und er ließ seinen Kamm fallen. "Hast du Min gesehen?" 

 

Überrascht sah er sie an. "Min? Ach, du meinst die Kleine mit den türkisen Haaren?" dachte er nach. Hoffnungsvoll funkelten Ju Lyns Augen. "Nein, keine Ahnung." Enttäuscht sank sie auf ihre Knie. Wo kann sie nur sein? 

 

"Hey, Kopf hoch Kleine. Wir finden deine Freundin schon. Hüpf drauf!" sagte er aufmunternd und klopfte auf das Motorrad. Etwas verwirrt schaute sie zu ihm hoch, überlegte aber nicht lang und saß dann neben ihm auf seinem Gefährt. Es war etwas eng in dem Beiwagen. Ryu reichte ihr einen Helm, der viel zu groß war.

 

Er ließ den Motor zwei Mal aufheulen und düste schließlich los. 

 

 

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Es dämmerte bereits, als Sada einen Anruf von Yoh bekam. Er wollte alle zusammentrommeln, damit sie bei ihm schlafen konnten. Sie war jedoch die einzige, dessen Telefonnummer er hatte, deshalb sollte sie den anderen Bescheid geben. Leider besaßen diese weder ein Handy, noch waren sie mit Sada unterwegs. Während sie mit Yoh also diskutierte, wie sie denn ihre Freundin erreichen sollte, hörte sie Pierro neben sich flüstern. "Du wirst beobachtet."

 

Sie sagte Yoh, dass sie ihn nochmal anrufen werde und legte auf. Mürrisch drehte sie sich um und sah fünf schwarze Gestalten, die sich gerade hinter einer Mauer versteckten. "Kommt schon raus", zischte sie genervt. Als sich nichts tat, schickte sie Pierro.

 

Dieser flog über die Figuren hinweg und bemerkte, dass es Mädchen waren. Schon wurde seine Laune merklich schlechter. Er flog näher an eines heran und schlug ihr auf den Kopf, sodass dieses kurz aufschrie und sich aufrichtete. Sada stand mit verschränkten Armen da und beobachtete, wie die anderen sich nacheinander dazu gesellten. "Ich nehme an, eine von euch ist Sharona?"

 

Die Blondine streckte stolz ihre Brust heraus und nickte. "Schön, ich werde dich fertig machen", meinte Sada nur unbeeindruckt und begann in die entgegengesetzte Richtung zu laufen. "Hey, warte mal!" rief ihr Sharona hinterher, doch Sada blieb nicht stehen. "Das wirst du noch bereuen!"

 

Sada war mittlerweile schon außer Hörweite und wählte Yoh's Nummer. Er erklärte ihr, wie sie zu seinem Haus kommen würde und sagte auch, dass Min und Natsuki bereits da wären. Ryu würde Ju Lyn aufgesammelt haben und sie auch mitbringen. Sada legte dann beruhigt auf und machte sich auf den Weg zu Yoh.