Der Schamanenkönig

 

"Was genau habt ihr jetzt vor?" fragte Ren misstrauisch, der sich im Schneidersitz auf den Boden gesetzt hatte. Nachdem sich - mehr oder weniger - darauf geeinigt wurde, dass Sada die neue Anführerin des Teams wurde, war seine Frage hauptsächlich an sie gerichtet. Doch Natsuki war diejenige, die antwortete: "Naja, erst einmal muss einer von uns Schamanenkönig werden während des Turniers. Die Extraportion Macht könnten wir gut gebrauchen. Ich melde mich freiwillig!"

 

"Es wäre auch gut zu wissen, wer der Schamane war, der das Turnier vor vier Jahren gewonnen hat. Dann könnten wir ihn erst einmal aus dem Weg räumen." Ju Lyn lächelte Ren an, der jedoch nur wie eingefroren da stand. Seinen Freunden ging es nicht anders. Yoh hob beschwichtigend die Hände: "Immer langsam. Warum müssen wir ihn denn gleich vernichten?" 

 

"Es besteht die Möglichkeit, dass er seinen Titel verteidigen will und das müssen wir zum Wohle der Welt verhindern!" argumentierte Ju Lyn und strich sich mit einer Hand durch ihre rosanen Haare. Ren räusperte sich daraufhin. "Vielleicht wäre es erst einmal gut zu wissen, wann das Turnier überhaupt stattfindet. Immerhin war das letzte erst vor vier Jahren, wie ihr schon wisst. Und Pierros Vision war nicht an eine Zeit gebunden, oder?" 

 

Der Schutzgeist von Sada tauchte hinter Ren auf. Er grinste und legte eine Hand auf seine Schulter, was den jungen Schamanen erschaudern ließ. "Da hast du recht. Ich kann euch nicht sagen, wann genau das Turnier stattfindet." Wieder meldete sich Ju Lyn zu Wort: "Aber das Mädchen aus deiner Vision ist bereits aufgetaucht. Das heißt, dass es nicht mehr lang dauern wird, bis auch der Rest wahr wird." Pierro nickte, ließ seine Hand jedoch noch auf Rens Schulter ruhen. Das gefiel dem Tao absolut nicht.

 

"Was haltet ihr davon, wenn wir erst einmal nach Hause gehen und uns ausruhen?" sprach Manta und versuchte damit das Thema zu wechseln. "Immerhin habt ihr gerade erst gekämpft und ihr seid sicherlich erschöpft und habt Hunger."

"Oh ja, ich hab so einen Kohldampf!" rief Trey, dessen Mundwasser sich bereits an seinen Lippen sammelte. Angewidert wich Natsuki ein paar Schritte zurück.

"Dann ist es beschlossen. Auf zu Yoh!"

 

Bei diesen Worten zuckte er zusammen. "Hey Manta, was hältst du davon, wenn wir zu dir gehen? Oder zu deinem Großvater in den Tempel. Du sagtest doch, dass er an diesem Wochenende nicht da sein würde", schrie der Asakura schon förmlich und machte damit einen sehr nervösen Eindruck. Ren und Ryu nickten heftig und Manta verstand die mitschwingende Botschaft sofort. "Alles klar, das ist eine sehr gute Idee."

Sada wurde leicht misstrauisch, sagte jedoch nichts und folgte der Gruppe stumm.

 

〄〄〄

 

Der Tempel der Oyamada-Familie war riesig. Er befand sich am Stadtrand von Tokyo und umschloss eine große Fläche an Land. Im Innenhof war eine Teichanlage zu finden, die von einem wunderschönem Garten umschlossen worden war. Manta bat alle, sich die Schuhe am Eingang auszuziehen und führte sie anschließend im Tempel herum. Er entschuldigte sich, um in die Küche zu verschwinden und gemeinsam mit Ryu das Essen vorzubereiten.

 

"Schön hat er es hier!" bemerkte Min und setzte sich auf einen der Felsen im Innenhof. Die Luft schien viel sauberer als an jedem anderen Ort, an dem sie jemals war. Ju Lyn gesellte sich zu ihr und verspürte das selbe Gefühl. Auch Natsuki fühlte sich auf einmal viel entspannter und ließ sich auf einer Bank nieder. Nur Sada blieb stehen.

 

"Erzählt doch mal etwas über euch", bat Ju Lyn die Jungen und legte ihre Hände unter ihr Kinn, um ihnen ihre Aufmerksamkeit zu signalisieren. "Das würde mich auch brennend interessieren", fügte Sada hinzu. Sie hatte Yoh ins Augenmerk genommen und wollte, dass er anfing. Jedoch war Joco schneller.

 

"Mein Name ist Joco und ich bin einer der besten Komödianten der Schamanenwelt. Kennt ihr den schon-." Kaum hatte er das gesagt, wurde ihm eine mit Rens Speer über den Kopf gezogen. "Glaubt mir, ihr werdet mir noch dankbar sein. Aber erzählt doch erstmal etwas über euch."

 

Sada beäugte ihn argwöhnisch, sprach jedoch kein Wort. Deshalb machte Natsuki den Anfang. "Also, ich bin Natsuki. Und das sind meine beiden Schutzgeister Tomoko und Tomiko. Sie sind die besten Schutzgeister, die man haben kann und haben mich schon oft in schwierigen Situationen gerettet." Sie zeigte stolz auf die zwei kleinen blonden Mädchen, die sich schüchtern hinter ihr versteckten. "Wie süß die sind", kommentierte Trey und trat näher an sie heran, um ihnen die Hand zu geben. "Das ist mein Schutzgeist; sie heißt Kororo und ist ein Koropokkuru."

 

Die Angesprochene verbeugte sich höflich und flog hinüber zu den beiden größeren Geistern, die sie freundlich empfingen. Sie schienen sich auf Anhieb zu verstehen, was Natsuki lächelnd beobachtete. "Pah, das ist doch gar nichts. Mein Schutzgeist könnte sie auf der Stelle in Stücke reißen, nicht wahr Bason?" entgegnete Ren und ließ seinen Partner erscheinen, welcher jedoch nur zurückhaltend hinter ihm schwebte und stumm nickte. Ren grinste, als er sah wie Natsuki sich leicht aufprustete.

 

"Hey, hey, keinen Streit hier!" versuchte Yoh die Atmosphäre zu beruhigen. Dann glitt sein Blick zu den beiden Schamaninnen, die sich auf dem Felsen ausruhten. "Was ist mit euch? Wir haben eure Schutzgeister noch gar nicht zu Gesicht bekommen!" 

 

Ju Lyn lächelte und nickte Min, welche neben ihr saß, zu. Sie hob ihr Schwert an, aus welchem ein wunderschöner Geist erschien. Sie trug einen Kimono und hatte ihre schwarzen Haare zu zwei Zöpfen zusammengebunden. Doch sobald sie erschienen war, hing sie auch schon mit einem Kunai an Rens Hals. "Keine Bewegung oder du wirst dein Leben vor deinen Augen aufleuchten sehen." Die süße Stimme des Mädchens passte absolut nicht zu ihrem aggressiven Verhalten. Sie schlug den äußerst verwirrten Schamanen mit der flachen Hand gegen seine Stirn, sodass er auf den Boden taumelte. Dann kicherte sie und teleportierte sich zurück zu ihrer Partnerin.

 

"Darf ich vorstellen, das ist Akane. Sie ist mein Schutzgeist", lachte Ju Lyn laut auf. Akane selbst zeigte mit ihrem Zeige- und Mittelfinger erst auf sich und dann auf Ren, um ihm zu bedeuten, dass sie ihm im Auge haben würde. Gleichzeitig streckte sie ihre Zunge heraus. "Sie ist manchmal etwas schwer zu bändigen, aber wir sind ein super Team!" lächelte Ju Lyn entschuldigend und kratzte sich am Hinterkopf. Sie schaute zu Min und forderte sie dazu auf, ihren Schutzgeist zu zeigen.

 

Doch diese starrte nur verwirrt auf ihr Schwert. "Raion?" Ihr Schutzgeist wollte sich jedoch nicht zeigen. Es schien kurz so, als würde sie in Gedanken mit ihm reden, bis sie enttäuscht aufseufzte. "Er kann nicht aus dem Schwert raus. Der Tempel ist schuld", erklärte sie missmutig. "Aber er ist ein toller Schutzgeist, auf den man sich immer verlassen kann. Ihr werdet ihn sicherlich bald kennenlernen."

 

Sada schnalzte genervt mit ihrer Zunge, um die Aufmerksamkeit von allen zu bekommen. "Das liegt daran, dass Raion ein Dämon ist. Und diese sind in Tempeln nicht gern gesehen, das hättest du eigentlich wissen sollen, Min." Auf diese scharfe Bemerkung konnte Min nur entschuldigend den Kopf senken.

 

"Leute, das Essen ist jetzt fertig!" rief Manta aus der Küche und deutete in einen der anderen Räume. Es stellte sich heraus, dass dies ein Esszimmer war und der Tisch war sogar schon mit Sushi und allerlei anderen japanischen Speisen gedeckt. "Man, da habt ihr euch aber Mühe gegeben!" grölte Trey und schnappte sich sofort eine der Schüsseln. Während alle reichlich viel Essen auf ihre Teller beförderten und die Köche mit Komplimenten berieselten, saß Sada nur mit verschränkten Armen und geschlossenen Augen auf ihrem Stuhl.


"Hey Sada, du kannst auch etwas essen; es ist genug für alle da," ermutigte Ryu sie. Als hätte das etwas in ihr ausgelöst, stand sie blitzartig auf und schlug mit ihrer Faust auf den Tisch. Ryu ließ die Schüssel Ramen, die er ihr gerade reichen wollte vor Schreck fallen. Sie knallte mit einem lauten Klirren auf dem Boden. Min schaute sie sorgenvoll an, irgendetwas stimmte ganz und gar nicht mit ihr. Sada erklärte sogleich, was das war.

 

"Wie lange willst du uns noch für dumm verkaufen, Yoh Asakura?" brüllte sie in einem sehr geladenen Ton. Der Angesprochene ließ ruhig seine Schüssel auf den Tisch nieder. "Was meinst du, Sada?" fragte er sie entspannt. Die Schamanin stürzte sich förmlich auf ihn und hob ihn an seinem Kragen in die Luft. Sofort richteten sich seine Freunde auf und zückten ihre Waffen, um im Notfall eingreifen zu können. Die Mädchen blickten sich sprachlos und verwirrt an. "Sada, was-," fing Ju Lyn an, doch sie wurde sofort von ihr unterbrochen.

 

"Du bist der derzeitige Schamanenkönig!"

 

Ein Raunen ging durch den Raum. Die Mädchen schauten Yoh entgeistert an, der ruhig in Sadas Griff hing. "Und was ändert das jetzt für dich?" sprach er und legte seine Hand über ihre. Erschrocken ließ sie ihn fallen und griff nach ihrer Peitsche. Das Zimmer war urplötzlich mit einer gefährlichen Stille gefüllt.